Ihrem Material verfallen –
Oskar Holweck und Jonathan Callan
von Dr. Petra Oelschlägel

Die beiden Künstler Oskar Holweck und Jonathan Callan könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein, doch es eint sie die Faszination und der Respekt vor einem Material, das zuvor bereits als Kulturgut von Menschen erschaffen wurde, dem Papier beziehungsweise dem Buch. Darüber hinaus verbindet sie eine bedingungslose Experimentierfreude, tiefer in diesen Stoff vorzudringen. Dabei gibt es für beide keine unverwertbaren Partikel, sondern sie gehen dem Ausgangsprodukt vollständig auf den Grund und nutzen es auf vielfältige und immer neue Art.

Holweck und Callan trennen beinahe zwei Generationen, doch die Freude am Werkstoff, Neugier, Beharrlichkeit und der Blick für feine Nuancen verbindet sie. Die beiden Künstler kennen bzw. kannten einander nicht, doch scheinen sie Verwandte im Geiste zu sein:
Auf der einen Seite Oskar Holweck (1924 – 2007), ein Pionier der Kunst aus Papier, der sich zumeist der Farbe verwehrt und überwiegend mit weißem Papier gearbeitet hat.
Es verwundert nicht, dass Holweck die Materialtreue, seine Kenntnisse darüber sowie das Immer-wieder-Neu-Erfinden durch ähnliche Handlungen auch in der Lehre weitergeben wollte: Ähnlich wie vor ihm bereits Josef Albers in den Vorkursen am Bauhaus ging es ihm darum, seine Studenten in der sogenannten Grundlehre durch Probieren, Experimentieren und spielerischen Umgang mit dem Material zu optischer und haptischer Sensibilität zu erziehen. Er betrachtete die ästhetische und künstlerische Bildung als einen Fachbereich, der – ebenso wie die Naturwissenschaften oder das Erlernen einer Sprache – von Vokabular und Grammatik bestimmt sei, die es zu trainieren und zu beherrschen gilt. Beide Begriffe sind aufschlussreich für die Betrachtung der Werke Holwecks, denn er selber knickt und knüllt, knittert und presst, ritzt und schlägt, bohrt, reißt und traktiert das Papier zeitlebens.

Da gibt es die einzelnen sichtbaren Zeichen, die er setzt: Punktionen, Ablösungen in mausezahnähnlicher Erhebung, Risse oder Risse, die geknittertes Papier zurücklassen, Zungen und vieles mehr. Zur Erstellung dieses Repertoires an Elementen hat Holweck eigene Hilfsmittel erschaffen, die ihm eine gleichbleibende, aber auch ökonomische Bearbeitung des Grunds erlauben. Bei der Auswahl und Erfindung dieser Werkzeuge hat er bereits die „Versuchsanordnung“ fest geplant: Verteilung der Zeichen auf der Fläche durch Reihung, Rhythmus, Dichte, Abstand, hier wären wir bei der sogenannten „Grammatik“. Dem wissenschaftlichen Experiment verwandt, hat Holweck seine „Forschungsvorhaben“ über Jahrzehnte in Serien angefertigt, in denen sich seine Fragestellung von Blatt zu Blatt nur minimal verändert: Durch Variation des eingesetzten Drucks, der aufgewendeten Zeit und anderer Parameter kann selbst bei Verwendung der gleichen Ausgangsmittel ein vollkommen anderes Ergebnis erzielt werden. Gerade in den seriellen Reihungen offenbart sich seine Beharrlichkeit und Disziplin. Holweck bleibt dem klassischen Topos von Ordo und Chaos verbunden: Die vermeintliche Verletzung der Oberfläche suggeriert das Phänomen Chaos, wohingegen deren strukturierte Anordnung auf der Fläche Ordnung repräsentiert. Die subtilen Spannungen zwischen diesen sich konterkarierenden Phänomenen tragen zum ungeheuren Reiz seiner Arbeiten bei.

In ihrer Reduktion und Einfachheit sind diese Eingriffe – die zuallererst als Verletzung oder Zerstörung der Oberfläche erkannt werden – eine in ihrer Klarheit kaum zu überbietende Bildsprache, die nichts auf den Träger appliziert, sondern sich ihm unmittelbar einschreibt: Als Positiv- und Negativ-Raum erscheinen die Millimeterverwerfungen, die eine lebendige Bildfläche erzeugen, in der sich das Spiel von Licht und Schatten entfalten kann. Der Künstler kennt und schätzt die dem weißen Papier zugeschriebenen sinnlichen Qualitäten und Eigenschaften von Reinheit, Jungfräulichkeit und Unverletzlichkeit. Weiß galt nicht nur den ZERO-Künstlern als Inbegriff für Entmaterialisierung und Erfahrungen des menschlichen Seins; dem Verzicht auf Farbe folgte in den 1960er Jahren eine ganze Generation von Kunstschaffenden im Westen, in deren Fokus die zarte Spannung von Licht und Schatten stand.

Holwecks Werke sind Angebote an den Betrachter, sich im Sehen zu üben, im Dechiffrieren einen Rhythmus zu erfahren und ganz bei den Dingen selbst zu sein. Gerade das Licht ist seiner Auffassung nach von höchster Bedeutung: „Zum Sehen bedarf es des Lichtes. Licht breitet sich im Raum aus und zeichnet sich auf Oberflächen, in Hohlräumen und durch die Materialbeschaffenheit bedingt in einer veränderten Form ab. […] Der Helligkeit muss unsere Aufmerksamkeit, derer wir fähig sind, gewidmet werden. Es ist dies meines Erachtens das bedeutendste Naturstudium, um das sich ein schöpferischer Mensch bemühen muss.“

Bei seinen Forschungen fordert Oskar Holweck von sich strenge Selbstdisziplin in Bezug auf das Material und die eingesetzten Mittel. Mit diesem den Naturwissenschaften verwandten Ansatz arbeitet er über Jahrzehnte und verwendet überwiegend die immer gleichen Papierqualitäten und Formate. Er macht wissenschaftliche Recherche mit Mitteln der Kunst erlebbar und beteiligt den Betrachter am Abenteuer der Entdeckung: von Rhythmus, Ordnung und letztlich Schönheit.

Oskar Holweck schreibt sich dem Papier immer wieder auf neue Weise ein, indem er es kratzt, schneidet, vermeintlich zerstört, doch jede Zerstörung ist eine Transformation, mit dem Ziel, das Innere offenzulegen und aus der Flächigkeit des Grundstoffes in die dritte Dimension zu gelangen und dem Bogen Papier zu größerer Plastizität zu verhelfen. Den kruden Punktionen, Schnitten und Rissen folgen Aufwölbungen, Verwerfungen, Verdichtungen der Materie, die den Bogen in ein Minimalrelief überführen. Aus Schluchten und tiefen Tälern erheben sich Hügel und Gebirgsformationen en miniature. Das Auge gleitet an diesen meist im Hochformat angelegten Arbeiten entlang und – ähnlich dem Schreiben oder Lesen – wandert es von links oben nach rechts unten den Zeilen entlang bis an den unteren Bogenrand.

Hier schließt der Künstler seine Arbeit mit einer minutiösen Datierung ab, zart und fein mit dem Bleistift in arabischen Ziffern für den Tag und römischen für den Monat, oft in starkem Kontrast zu den groben Verletzungen des Papiers. Das Experiment wird auf den Tag genau festgehalten, eine Reihenuntersuchung folgt der nächsten. Der Chronist kann Holwecks Experimente auf den Tag genau verfolgen und staunt, mit welcher Akribie und Disziplin
der Künstler sein „Labor“ nutzt, um diese Untersuchungen vorzunehmen.

Auch Jonathan Callan, der in Manchester gebürtige Künstler, Jg. 1961, der seine Ausbildung am Goldsmith College of Art in London beendete, kriecht in seinen Grundstoff hinein. Seit Jahrzehnten konzentriert er sich darauf, mit Druckerzeugnissen zu arbeiten: mit Zeitschriften, Zeitungen, Atlanten und Büchern aller Art, darunter auch Klassiker wie die Bibel und Kunstwerke der Literatur. Doch betrachtet Callan das Druckerzeugnis (egal ob Buch oder Landkarte, Kassen- oder Notizbuch, Stadtplan, Zeitschrift oder Foliant) als Gegenstand, den es mit kindlicher Neugier auseinanderzunehmen, zu untersuchen und zu erforschen gilt wie andere Dinge auch.

Sein Ausgangsmaterial trägt bereits eine Geschichte als Informationsspeicher, Gebrauchs- und Kulturgut in sich oder beinhaltet – wie im Falle weiterverwendeter Notiz- oder Kassenbücher – sehr authentische und einzigartige Aufzeichnungen (z.B. A flower in Trading in May, 2020, 43 × 33 × 6 cm). Die Aufladung durch den Inhalt stellt für Callan einen großen Reiz dar, was sich darin begründet, dass er der Sprache grundsätzlich eine besondere Bedeutung in seiner Kultur beimisst. So betrachtet er England als literarisch dominiert und vermisst häufig die Präsenz des Visuellen, ein Ungleichgewicht, das er mit seiner künstlerischen Arbeit auszugleichen versucht.

Mit großer Freude und Hingabe sammelt und sucht Callan sein Ausgangsmaterial in Antiquariaten, auf Flohmärkten und im Internet und sortiert es immer wieder nach verschiedenen Kriterien. Genauso kann eine Trouvaille ihn aber auch zu einem Werk inspirieren. Es gibt kaum eine Form der Bearbeitung, die er mit einem Buch noch nicht vorgenommen hat: Zerschneiden, Zerreißen, Verkleben, Verschrauben, Auseinandernehmen, den Umschlag ablösen, den Buchblock herausreißen, Akkumulieren, Pulverisieren und vieles mehr. Für Jonathan Callan steht die prozessuale Aneignung des Ausgangsobjektes im Mittelpunkt, wobei der Bestimmung des Ausgangsproduktes meist nicht mehr gefolgt werden kann: Seiten können nicht mehr umgeblättert, Bilder nicht mehr betrachtet und Bücher meist nicht mehr gelesen werden. Der Inhalt ist für immer eingeschlossen – oder aber vollständig entfernt. (Court, 2018, temporäre Installation Kunstmuseum Villa Zanders)
In zahlreichen Skizzenbüchern legt er Ideen an und nähert sich dann experimentell, indem er analysiert, separiert usw. Für dieses Experiment steht ihm – verglichen mit Oskar Holweck – eine ungleich größere und völlig andere Palette von Werkzeugen und Möglichkeiten zur Verfügung, da er mit spielerischer Leichtigkeit und künstlerischer Freiheit Silikon, Farben und Harze, Beton, Spielzeug oder anderes hinzufügt.

Jonathan Callan verfolgt die Addition und Substraktion von Materie gleichermaßen: Genauso, wie er in etlichen Künstlerbüchern das geöffnete Buch durch Hinzufügen anderer Stoffe oder Materialien in eine andere Form überführt – vom Massenprodukt zum Unikat – oder durch die Anhäufung und Verbindung aufgerollter Bücher und Zeitschriften Skulpturen und monumentale Wandarbeiten erschafft, kann er auch in den Mikrokosmos des Buches eindringen. Besonders poetisch sind dabei all jene Werke, in denen er von der einzelnen Buchseite ausgeht und derart viel Substanz entfernt, dass nur noch ein fragiler Rest verbleibt.
Diese Vorgehensweise wählt Callan sowohl bei Abbildungs- als auch bei Textseiten.
Bildmotive radiert er, schabt, und wäscht sie in Teilen aus um sie – teils mit wunderbar ironischer Note – zu transformieren. Dazu sucht er sich zuweilen ähnliche Motive aus unterschiedlichen Quellen zusammen, die er zu Serien formiert (Nowhere, 2014). Aus den Textseiten hingegen punziert er die Schrift mit Akribie, so dass die Druckerschwärze letztendlich eleminiert ist. Eine grundlegende Bedeutung des Buches – das dauerhafte Aufbewahren eines Textes – führt Callan damit ad absurdum. Bei einer Präsentation der perforierten Seite schafft ein festgelegter Abstand zur Wand einen Raum, in dem eine „Projektion“ der ausgelöschten Schrift für Lesbarkeit des Textes auf der Wandfläche sorgt. Diese Auflösung des Textes, das Entfernen des eigentlichen Inhalts und Zweckes, offenbart Callans vorbehaltlosen Umgang mit dem Material. Genauso ist er jedoch auch in entgegengesetzter Weise vorgegangen und hat ganze Buchseiten „verdoppelt“, indem er sie per Hand minutiös abgeschrieben hat. Zeile für Zeile, so eng neben- und untereinander – und das im Großformat von 153 × 122 cm – (The Bible And My Commentary On It (Genesis to Leviticus Chapter Nine Verse Four), 2010), dass man die Zeit, die das Abschreiben in Anspruch nimmt und die Auseinandersetzung mit dem Inhalt beinahe körperlich nachempfinden kann.
Darüber hinaus hat Callan Bildinhalte aus Zeitschriften kopiert und – ähnlich Wimmelbildern – immer wieder abgezeichnet oder Figuren aus Abbildungen herauspunziert und daraus Collagen erstellt. Bedeutsam ist die Wahl seiner Werktitel, denn mit streitbarer Ernsthaftigkeit nimmt dieser Künstler für ihn untragbare Zustände in den Fokus. Gerade in den objekthaften Bearbeitungen offenbart sich auch sein trockener Humor sowie seine soziale und politische Haltung, die von Kritik an herrschenden Marktmechanismen und sozialen Ungerechtigkeiten gekennzeichnet ist. Zusammenfassend könnte man sagen, dass für Jonathan Callan jeder Umgang mit Buch, Text und Bild denkbar ist: Die Fülle der Möglichkeiten ist unerschöpflich, er dringt horizontal und vertikal in sein Material, er assoziiert frei und spielerisch, negiert den Inhalt oder konzentriert sich auf ihn.

So unterschiedlich Oskar Holweck und Joanthan Callan arbeiten, so ist es doch eine Freude, sie bei ihren Forschungsprojekten zu begleiten und dadurch die eigene Sensibilität und Beobachtungsgabe zu steigern und zu verfeinern. Zumeist ist nicht nur ein Bewusstseinsgewinn, sondern auch ein großes Glücksgefühl damit verbunden, die Ergebnisse eingehend studieren und einen Erkenntnistransfer mitnehmen zu können.

Oskar Holweck

29 VIII 69/ 2

1969, Papier, 100 x 70 cm

Oskar Holweck

2 X 84/ 8

1984, Papier, 100 x 70 cm

Oskar Holweck

25 VIII 69/1

1969, Papier, 100 x 70 cm

Oskar Holweck

7 VII 74/3

1974, Papier, 100 x 70 cm

Oskar Holweck

29 IX 84/ 2

1984, Papier, 100 x 70 cm

Oskar Holweck

26 VIII 74/ 1

1974, Papier, 70 x 100 cm

Osakr Holweck

25 III 76/ 8

1976, Papier, 50 x 40 cm

Oskar Holweck

25 III 76/ 14

1976, Papier, 50 x 40 cm

Oskar Holweck

30/II 58

1958, Papier, Tusche, 50 x 65 cm

Oskar Holweck

Tb. 30 XII 83/ S. 2

1983, Papier, 29,7 x 41 x 2 cm

Oskar Holweck

Tb. 30 XII 83/ S. 32

1983, Papier, 29,7 x 41 x 2 cm

Oskar Holweck

Tb. 7 XI 84/ Bl 30

1984, Papier, 29,7 x 41 x 2 cm

Jonathan Callan

Arrangement with flowers

2021, Papier und Nadeln, 26 x 18 x 5 cm

Jonathan Callan

Point of Sale

2016, Papier und Buntstift, 145.5 x 109 cm

Jonathan Callan

Evolution

2011, Papier und Holz, 80 x 60,5 x 10 cm

Jonathan Callan

Obelisk

2020, Papier, Holz, Kunstharz, Acrylfarbe, 39 x 27 x 22 cm

Jonathan Callan

Park

2020, Papier, Holz, Kunstharz, Acrylfarbe, 55 x 38 x 4 cm

Jonathan Callan

Correlation

2021, Papier und Nadeln, 19 x 13,5 x 5 cm