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Die Ausstellung Versuche aus der Literatur und Moral stellt zwei erstmalig präsentierte Arbeiten des französischen Künstlers Raphaël Denis einander gegenüber.
Räumlich einnehmender ist Fahrenheit : Sauver, Maintenir, Soutenir(„Fahrenheit : Retten, Erhalten, Unterstützen“), eine Installation aus Metallregalen, auf denen schwarze Objekte nebeneinander stehen, die Bücher in ihrer gewohnten, zum Nachschlagen einladenden Aufbewahrung suggerieren. Tatsächlich kann jedoch keine einzige Seite aufgeschlagen werden, stattdessen reihen sich meterweise Platzhalter, die für verkohlte Bücher stehen.
Die Installation bietet in ihrer Reihung unzugänglicher Bücher eine visuelle Übersetzung des Verlusts an Wissen, der aus – vorsätzlichen wie zufälligen – brandbedingten Zerstörungen resultiert. Evoziert werden die verschiedensten Amputationen der Menschheitsgeschichte: vom Brand der Großen Bibliothek von Alexandria bis zu dem der Anna Amalia Bibliothek in Weimar, von den Verwüstungen von Schlösser- und Klosterbibliotheken während der Französischen Revolution zu der Brandschatzung der Universitätsbibliothek 1914 im belgischen Löwen durch die deutsche Armee, von den Scheiterhaufen an konfuzianischen, arabischen oder Maya-Texten, welche zusammengetragen wurden durch respektive den ersten Kaiser der Qin-Dynastie Qin Shi Hua, Kardinal Cisneros nach der Eroberung von Granada oder Diego de Landa, bis zu den jüngsten Verwüstungen in Timbuktu, Tripolis oder Mossul.
Die Installation geht aber über eine Dokumentation der Zerstörung hinaus und versteht sich als Hommage an die komplizierte Arbeit der Restauratoren und anderer Akteure des Kulturerbeschutzes, die sich der Schadensbegrenzung und -behebung widmen, sobald die Flammen erloschen sind. Diese Hommage würdigt auch all jene Gelehrte, die wie Abdel Kader Haïdara in Konfliktsituationen die Rettung von etwa 350000 Manuskripten aus 45 verschiedenen Bibliotheken im Mali vor den Djihadisten des maghrebinischen Al Quaida Ablegers erreichten. Ähnlich Alfred Kantorowicz, der am ersten Jahrestag der nationalsozialistischen Bücherverbrennung in Paris eine Freiheitsbibliothek mit Exemplaren der in Deutschland „den Flammen übergebenen“ Bücher durch eine Festrede von Heinrich Mann einweihte. Diese letzte Referenz verweist auf eine thematisch und visuell ähnliche Arbeit von Raphaël Denis, La Loi Normale des Erreurs : Vernichtet(2015, „Normalverteilung der Fehler : Vernichtet“). Hier präsentierte Denis schwarze Bilder und ihre Rahmen, die Brandspuren aufweisen, und erinnert an die Verbrennung von gut 500 geraubten Kunstwerken im Pariser Jardins des Tuilleries durch die Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg. Wie schon jene schwarzen Bilder keine wirklichen Kunstwerke waren sind auch die Bücher aus Fahrenheit : Sauver, Maintenir, Soutenir keine wirklich verbrannten Bände, sondern Holzblöcke: nach einer aufwändigen Präparierung werden sie den Flammen ausgesetzt. Der Prozess ist dem der historischen Vorläufer identisch, nur mit umgekehrten Ausgang, da das Feuer bei Denis ein natürliches Element zur Kunst und somit zum Kulturgut erhebt, während es bei wirklichen Bücherbränden Kulturgut in seinen Elementstatus zurückversetzt.
Durch diesen Prozess fungiert die Installation auch als Mahnmal und plädiert für Wachsamkeit vor neuen und Erinnerung an bereits vollzogene Bücherverbrennungen, ähnlich wie Micha Ullmanns ortspezifisches Werk mit den leeren Regalen unterhalb des Bebelplatzes in Berlin, auf dem am 10. Mai 1933 die Bücherverbrennungen stattfanden. Der Titel erinnert auch an den dystopischen Roman von Ray Bradbury und seine Verfilmung durch François Truffaut, Fahrenheit 451 (der Temperatur, bei der Papier sich entzündet), in welcher Bücher durch eine „Feuerwehr“ vernichtet werden und nur eine kleine Gruppe Menschen in der Wildnis als Träger des Wissens übrig bleibt: jeder hat ein Buch komplett auswendig gelernt und ist somit zur körperlichen Inkarnation des sonst verlorenen Werkes geworden. Die Besonderheit bei Raphaël Denis ist jedoch, dass die Opfer der Zerstörung, die Bücher, wie in der vorherigen Arbeit die Kunstwerke, materiell präsent sind, klar erkennbar und trotzdem verfremdet, und somit der abstrakten Zerstörung eine beeindruckende und bedrückende physische Dimension verleihen.

Gegenüber Fahrenheit : Sauver, Maintenir, Soutenir befindet sich Corps 1 : Index librorum prohibitorum („Körper 1: Verzeichnis der verbotenen Bücher“). Dieses in zwölffacher Ausführung gefertigte Multiple basiert auf einer typographischen Reduktion mit dem Ziel, ein gesamtes literarisches Werk auf eine einzige, räumlich beschränkte Oberfläche zu verteilen. Ähnliche Arbeiten haben bereits Meisterwerke der französischen Literatur, Corps 1 : La Princesse de Clèves (2009) und Corps 1 : La Recherche (2011), auf eine einzige Seite und bis zur äußersten Grenze der Lesbarkeit komprimiert. Anders als bei den Werken von Madame de La Fayette oder Marcel Proust finden sich in Corps 1 : Index librorum prohibitorum keine Sätze, sondern eine Reihe von Büchertiteln. Es handelt sich um die letzte Version jener Liste, mit welcher die römisch-katholische Kirche seit ihrer Einführung 1559 bis zur letzten Aktualisierung 1948 und ihrer definitiven Abschaffung 1966 ihre Anhänger vor moralisch verwerflichen Schriften warnte. Zu den indizierten Büchern zählten neben den Werken bedeutender Wissenschaftler, Philosophen und Schriftsteller von Galileo Galilei über Immanuel Kant bis Charles Baudelaire, welche aus Sicht der Kirche verwerfliche Werte und Ideen vermittelte, auch eine Vielzahl an Varianten, Übersetzungen oder Kommentaren der Bibel, welche die Frommen vor fehlgeleiteten Auslegungen und Abweichungen vom rechten Glauben schützen sollte.
Die Ausstellung Versuche aus der Literatur und Moral thematisiert mit den materiellen wie mit den reglementarischen Angriffen zwei verschiedene Formen der Feindseligkeit gegenüber dem Text und somit der Aufbewahrung und Verbreitung von Wissen. Der Akzent liegt hier auf der Gefährdung des Fortbestandes der Tradierung und der im Laufe der Zeit zunehmenden Wahrscheinlichkeit der Katastrophe, der Zerstörung und des Vergessens. Mit ihren zwei Werken unterstreicht die Ausstellung vor allem die Wichtigkeit der Wiederherstellung und die Pflege des kulturellen Gedächtnisses, allen voran den Erhalt der Erinnerungen an jegliche Art von Verlusten, ganz gleich ob sie die Konsequenz von zufälligen Feuer oder lang geschürtem Eifer sind. Der Dialog dieser beiden Arbeiten ist die Fortsetzung der Beschäftigung von Raphaël Denis mit dem Verhältnis der Gesellschaften zu ihren Dogmen, zu ihren Kriegen und ihren kulturellen Vermächtnissen.

Raphaël Denis und Gabriel Montua


The exhibition Versuche aus der Literatur und Moral juxtaposes two artworks by the French artist Raphaël Denis that are presented for the first time.
More spacious is Fahrenheit: Sauver, Maintenir, Soutenir (“Fahrenheit: Save, Preserve, Support”), an installation of metal shelves with black objects next to each other, seeming to be books. However, not a single page can be turned, instead the beholder is faced with rows of substitutes representing charred books.
The installation, as a line of inaccessible books, provides a visual translation of the loss of knowledge that results from intentional as well as random, fire-related destruction. Various amputations of human history are evoked: from the fire of the Great Library of Alexandria to the Anna Amalia Library in Weimar, from the devastation of castles and monasteries during the French Revolution to the pillaging of the University Library in 1914 in the Belgian Leuven by the German army , from the pyres on Confucian, Arabic or Mayan texts collected by respectively the first emperor of the Qin Dynasty Qin Shi Hua, Cardinal Cisneros after the conquest of Granada or Diego de Landa, up to the recent devastations in Timbuktu, Tripoli or Mosul.

However, the installation is more than a mere documentation of the destruction and it is to be understood as a tribute to the complicated work of the restorers and other protagonists of cultural heritage protection, which are dedicated to the mitigation and repair of the damage as soon as the flames are extinguished. This homage also pays tribute to those scholars who, like Abdel Kader Haïdara in conflict situations, managed to save some 350,000 manuscripts from 45 different libraries in Mali from the jihadists of the Maghreb Al Qaida spin-off; or to Alfred Kantorowicz, who on the first anniversary of the National Socialist book burning in Paris inaugurated a liberty library with copies of the books “handed over to the flames” in Germany with a speech by Heinrich Mann. This last reference points to a thematically and visually similar work by Raphaël Denis, Loi Normale des Erreurs : Vernichtet (2015, “Law of distribution of errors: annihilated”). Here Denis presented black images and their frames, which have burn marks, and recalled the burning of over 500 stolen artworks in the Parisian Jardins of the Tuilleries by the occupying power in the Second World War. Just as those black pictures were not real works of art, the books of Fahrenheit: Sauver, Maintenir, Soutenir are not really burned volumes, but wooden blocks: after a complex preparation they are exposed to the flames. The process is identical with that of the historical precursors, but with the opposite outcome, since the fire in Denis’ artworks raises a natural element to art and thus to cultural heritage, the real book fires turn the cultural heritage into its elemental status.

Through this process, the installation also functions as a memorial and advocates vigilance against new and the memory of already completed book burnings, similar to Micha Ullmanns site-specific work with the empty shelves below the Bebelplatz in Berlin, on which on May 10, 1933 the book burnings took place. The title also recalls the dystopian novel by Ray Bradbury and its adaptation by François Truffaut, Fahrenheit 451 (the temperature at which paper ignites), in which books are destroyed by a “fire brigade” and only a small group of people in the wild remains as the bearer of knowledge, as everyone has memorized a book completely and thus became the corporeal incarnation of the otherwise lost work. What is special about Raphaël Denis, however, is that the victims of the destruction, the books, are as in the previous work the artworks, materially present, clearly recognizable and alienated, and thus give the abstract destruction an impressive and oppressive physical dimension.

Facing Fahrenheit: Sauver, Maintenir, Soutenir Corps 1: Index librorum prohibitorum (“Body 1: List of Forbidden Books”) is located. This twelve-fold multiple is based on a typographic reduction with the aim of distributing an entire literary work on a single, spatially limited surface. Similar works have already condensed masterpieces of French literature, such as Corps 1: La Princesse de Clèves (2009) and Corps 1: La Recherche (2011), to a single page and to the utmost limits of readability. Unlike the works of Madame de La Fayette or Marcel Proust, there are no sentences in Corps 1: Index librorum prohibitorum, but a series of book titles. It is the last version of the list with which the Roman Catholic Church warned its followers from morally reprehensible writings since its introduction in 1559 until the last update in 1948 and its definitive abolition in 1966. Indexed books included not only the works of eminent scientists, philosophers and writers from Galileo Galilei to Immanuel Kant to Charles Baudelaire, who, from the church’s point of view, conveyed despicable values ​​and ideas, but also a multitude of variants, translations or commentaries of the Bible; a list which should protect the believer from misguided interpretations and deviations from the right belief.

Dealing with the material as well as with the regulatory attacks, the exhibition Versuche aus der Literatur und Moral thematises two different forms of hostility to the text and thus the preservation and dissemination of knowledge. The emphasis here lays on the peril of the continuity of tradition and the increasing likelihood of disaster, destruction and oblivion over time. With these two works, the exhibition emphasizes the importance of restoring and cultivating the cultural memory, above all preserving the memories of any kind of loss, whether they are the consequence of accidental fire or long-drawn zeal. The dialogue between these two works is the continuation of Raphaël Denis’ work on the relationship of societies with their dogmas, their wars and their cultural legacies.

Raphaël Denis und Gabriel Montua

Versuche aus der Literatur und Moral

detail view Fahrenheit : Sauver, Maintenir, Soutenir (RLD/S 1), 2018, Galvanized shelves, stainless steel and calcined wood, 250 x 420 x 32 cm

Versuche aus der Literatur und Moral

Versuche aus der Literatur und Moral | Installation view, Galerie Martin Kudlek, Cologne

Versuche aus der Literatur und Moral

Corps 1 : Index librorum prohibitorum (RLD/ S 2), 2018, Fine Art Print on Hahnemühle Paper on Aluminium, 57 x 39 cm

Versuche aus der Literatur und Moral

Versuche aus der Literatur und Moral | Installation view, Galerie Martin Kudlek, Cologne

Versuche aus der Literatur und Moral

Fahrenheit (RLD/S 3), 2018, Wood, Ink on Shelf, 49 x 33 x 112 cm

Versuche aus der Literatur und Moral

Fahrenheit (RLD/S 4), 2018, Wood, Ink on Shelf, 46,5 x 33 x 112 cm

Versuche aus der Literatur und Moral

Versuche aus der Literatur und Moral | Installation view, Galerie Martin Kudlek, Cologne

Versuche aus der Literatur und Moral

Versuche aus der Literatur und Moral | Installation view, Galerie Martin Kudlek, Cologne

Versuche aus der Literatur und Moral

Fahrenheit . Sauver, Maintenir, Soutenir (RLD/ S 1), 2018, Galvanized shelves, stainless steel and calcinated wood, 250 x 420 x 32 cm