Die Ausstellung ‚WALKING THE LINE IX ¬– Cut, Torn and Folded’ bildet die Fortsetzung der jährlich gezeigten Ausstellungsreihe ‚WALKING THE LINE‘ und thematisiert exemplarisch die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten des Materials Papier im künstlerischen Werk. Im Zusammenwirken der unterschiedlichen Arbeiten in dieser Gruppenausstellung wird die Vielschichtigkeit und das Facettenreichtum des Mediums visuell erschließbar. Die Positionen der gezeigten modernen und zeitgenössischen KünstlerInnen, konzentrieren sich auf das Papier als Grundlage formaler und konzeptueller Untersuchungen und gehen hierdurch über die konventionellen Vorstellungen des Mediums hinaus. Historisch betrachtet, nimmt das Papier als traditioneller Träger von Zeichnungen, im Verlauf der 1960er und 1970er Jahre durch das wachsende Interesse an der Prozesshaftigkeit und Materialität des künstlerischen Mediums eine besondere Stellung in konzeptuellen und minimalistischen Praktiken ein. Angesichts der Ubiquität des Materials in der Kunst- und Lebenswelt, sowie der vielseitigen Formbarkeit desselben untersuchen KünstlerInnen in unterschiedlichen Herangehensweisen die grundlegenden Eigenschaften, formalen Qualitäten und die möglichen künstlerischen und kulturellen Assoziationen des Materials Papier. Wie der Titel der Ausstellung andeutet, zeigen viele der ausgestellten Werke die aktive Bearbeitung des Materials durch die Hand der KünstlerInnen. Hierdurch werden nicht nur die traditionellen Vorstellungen von Kunstwerken aus Papier überschritten, welche vor allem Arten der Markierung in der Zeichnung intendieren oder die Notwendigkeit der grafischen Linien diktieren, sondern der Prozess der Produktion und Bearbeitung selbst rückt in das Zentrum der Arbeit. In der bewussten Manipulation des Blattes/der Blätter mit einer breiten Palette ästhetischer Taktiken wie Reißen, Durchstechen, Rollen, Falten und Drücken, aber auch in der künstlerischen Anordnung von Papier im Raum stellen die ausgestellten Arbeiten subtile und vielfältige Untersuchungen von Arbeit, Licht und Raum dar.
In der Werkreihe ‚Avalanche‘ beschäftigt sich Sophie Bouvier Ausländer mit der Idee des Enthüllens und Verbergens. Durch die Bearbeitung in Form von Übermalung kartographischer Karten weist sie über das eigentliche Material der Landkarte hinaus und thematisiert neben dem graphischen Gestaltungspotenzial der Karte, Fragen von Repräsentation, Territorium und Grenze. Der Titel ‚Avalanche‘, zu deutsch ‚Lawine‘, nimmt in diesem Zusammenhang explizit Bezug auf die Geste des bedecken und überlagern in den kreativen Bewegungen des Malens. Tatsächlich ist dieses Werk weder anekdotisch noch enthält es persönliche Geschichten; vielmehr hinterfragt es die Karte als Verständnismittel und symbolische Repräsentation der Welt. Die „Lawine“, das Überziehen der Karten mit Farbe, löscht dieses Verständnis aus. Die Loslösung der Karte von ihrer beabsichtigten Funktion als tatsächliche Abbildung der Wirklichkeit, expliziert das graphische Potential derselben und bringt sie somit der Malerei näher.
Nadine Fecht nähert sich dem Material Papier hingegen aus ganz anderer Perspektive. Im Zentrum ihrer in dieser Ausstellung gezeigten Positionen steht das Medium weniger aufgrund seiner Materialität, sondern aufgrund seiner bereits verarbeiteten und mit Bedeutung und Wert versehenen Gestalt: in Form von Preisschildern und Geldscheinen. Fecht reiht die Geldscheine und Preisschilder, welche offensichtliche Gebrauchsspuren aufweisen, in geordneter Form aneinander. Neben den Eindruck der Materialität und visuellen Erscheinungsform des Geldscheines bzw. Preisschildes treten die Assoziationen des Tausch- und Gebrauchswertes. Fecht parodiert in ihrer Arbeit gewisser Weise die konventionelle Apotheose des Kunstwerks aufgrund seiner kulturellen Bedeutungszuschreibung und visualisiert die Geste ebendieser Zuschreibung durch das explizite Ausstellen eines konventionellen, materialisierten Wertes. Fecht provoziert hierdurch die Frage nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten von Zuschreibungen ideeller und materieller Werte.
Die Objekte und Installationen der Bildhauerin Angela Glajcar sind der Erforschung von Raumerfahrungen gewidmet und zeigen die Faszination der Künstlerin für räumliche Präsenz von scheinbar leichten Materialien wie Papier im Raum. Gegensätze wie Leichtigkeit und Schwere, Ruhe und Dynamik, Schönheit und Zerstörung sowie Licht und Schatten werden erfahrbar. Besonders das Verhalten des Materials gegenüber Licht spielt eine entscheidende Rolle. Weißes Papier nimmt das Licht der Umgebung, sei es künstlich oder natürlich, auf und bringt so seine vielfältigen Farbtöne zur Geltung. Durch Schichtung und Bearbeitung einzelner Papierschichten und das hieraus hervorgehende Verhältnis von Licht und Schatten zeigt ein Wechselspiel innerhalb und außerhalb der Arbeiten und verwandelt die voluminöse Skulptur in ein multidimensionales Werk.
Ellen Keusen beschäftigt sich in ihrer Reihe ‚Treibgut‘ mit der organischen Natur des Mediums Zeichnung. Die Grundlage der Werke bilden Bleistift- und Farbstiftzeichnungen, von welchen die Künstlerin Details digital bearbeitet und anschließend beschnitten hat. Sie sind nicht auf Papier, sondern auf Folie gedruckt, verweisen aber in ihrem Ursprung auf das Material Papier. In ihrer Form sind die Werke unregelmäßig gestaltet, die Netzstruktur ist von unterschiedlicher Dichte, ihre Flächigkeit scheint zu zerfließen und lenkt hierdurch die Aufmerksamkeit auf Bewegung und Dynamik der Kuntwerke. Das Material scheint wie belebt.
Für Fiene Scharp rückt das Papier als durchlässige Visualisierungs- und Modellierungsfläche in den Vordergrund. Ihre Untersuchung von Rasterstrukturen, die sie zu einem feinen Gitterwerk an Linien zusammenfügt, ist auf die Auflösung der Normativität strenger Gitterstrukturen angelegt, welche sie durch die Produktion minimaler Unregelmäßigkeiten in der Komposition von Linien und Gitterwerken provoziert. Die unmerklichen Differenzen und Irritationen, die durch den manuellen Herstellungsprozess der Werke entstehen, fordern von dem Betrachter eine nähere und konzentrierte Untersuchung der Oberfläche und Strukturen. So enthüllt eine umfassende Betrachtung die Abweichungen der Rasterungen, welche zunächst Perfektion und Präzision suggerieren. Hierdurch tritt nicht nur die Brüchigkeit des Materials, der Oberflächen und Strukturen hervor, ferner wird die Gleichförmigkeit des Ausgangsmaterials Papier in Gänze durchbrochen, ferner in seine Negativdefinition verkehrt: Durchlässigkeit und Unregelmäßigkeit bilden die Grundelemente des Mediums Papier im Werk Fiene Scharps.
Simon Schubert gestaltet das Medium Papier in seinem Oevre als Zugang zu einer Parallelwelt. In Paierfaltungen sowie Zeichnungen entstehen Räumlichkeiten und Passagen, die den Rezipienten in das Werk hineinzuziehen scheinen. Gleichzeitig regen seine komplexen Interieurs zur Selbstbefragung der visuellen Erfahrung an. Dabei sind seine Zeichnungen dominiert von den Farben Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel, die sich einander zu bedingen scheinen und durch welche erst die entworfenen Tiefen und Räumlichkeiten entfalten.
Die in dieser Ausstellung gezeigten Werke legen den Schwerpunkt der Auseinandersetzung auf das Material Papier selbst. Über die gezeichneten Faltungen des Papiers lässt sich im Rahmen der Ausstellung ‚WALKING THE LINE‘ eine Referenz zu Oskar Holwecks Faltwerken herstellen, wobei sich Schuberts Zeichnungen als ein ironischer Kommentar zur künstlerischen Technik des Faltens lesen lässt. Gleichzeitig treten die gezeigten Werke als Selbstreferenz hervor, indem die vermeintliche Faltung des Papiers eben nur in der Abbildung derselben Faltung besteht.
Während Papier in Oskar Holwecks frühen Tusche- und Graphitarbeiten in noch traditionellem Sinne als Trägermaterial Verwendung findet, entstanden bereits 1958 erste Papierreliefs, die das Papier als plastischen Werkstoff interpretierten, an dem sich Phänomene des Lichts, des Raums und der Zeit konkretisierten. Der Einsatz industriellen Papiermaterials sowie die konsequente Hinwendung zur Unfarbe Weiss sind für sein Werk programmatisch. „Das Papier unterwirft Holweck einem Destruktionsprozeß, den er so bestimmt, daß Strukturen gewonnen werden, die nie mechanisch und damit wiederholbar werden. Holweck bringt damit einerseits die Materialität des Werkstoffes Papier gewissermaßen zu sich selbst, andererseits schöpft er das künstlerische Repertoire des Seriellen voll aus.“ (Hans-Peter Riese: Oskar Holweck. Arbeiten 1956-1994. Katalog zur Ausstellung. Mittelstadt St. Ingbert (Hg.). St. Ingbert 1995. S. 8 f.)